Heute früh war es so weit. Fassungslos stehe ich vor meinem „Freund“, der die letzte schwere Sturmnacht mit wahren Sturzbächen von Regen und Orkanartigen Windböen nicht überstanden hatte. Der Weidenbaum am Ufer des Heiligen Sees in Potsdam, der in dieser Nacht um sein Leben kämpfte, diesen Kampf letztendlich verlor und jetzt entwurzelt am Boden liegt. Ich schäme mich nicht meiner Tränen, die mir in die Augen steigen, auch weil mir automatisch das Klagelied von Alexandra in den Sinn kommt. Welches mich seit meiner Kindheit begleitet und meine Einstellung zum Leben und zu unserer Natur mit geprägt hat:
„Mein Freund der Baum ist tot, Er fiel im fruehen Morgenrot.
Du fielst heut frueh, ich kam zu spaet,
du wirst dich nie im Wind mehr wiegen,
du musst gefaellt am Wegrand liegen,
und mancher der vorruebergeht,
der achtet nicht den Rest von Leben
und reist an Deinen gruenen Zweigen, die sterbend sich zur Erde neigen.
Wer wird mir nun die Ruhe geben,
die ich in deinem Schatten fand?
Mein bester Freund ist mir verloren,
der mit der Kindheit mich verband.“
Ja, meine Kindheit, die war untrennbar mit meinen Freunden, den Bäumen verbunden. Auch mit unzähligen Sträuchern, in denen noch Dompfaff, Amsel, Grünfink oder das Rotkehlchen Schutz fanden. Mit rauschenden Bächen, in denen Forellen sprangen und wir darin sogar Krebse beobachten konnten. Oder mit blühenden Wiesen, von denen wir jedes Jahr zu Muttertag den bunten Blumenstrauss holten.
Mit Weidenbäumen, wie mein gerade sterbender Freund, aus deren Zweigen wir uns die entsprechenden Pfeifen schnitzten. Meine Großmutter daraus Körbe flechtete und die als erster Frühlingsblüher den Bienen Nahrung zum Überleben lieferten. Obstbäume, in die wir kletterten, um uns die ersten saftigen – oft auch noch sauren, weil wir es einfach nicht erwarten konnten – Äpfel, Birnen, Zwetschgen, oder Mirabellen schmecken zu lassen. Hasel- und Walnussbäume, deren Früchte wir in unseren Hosentaschen nach Hause schleppten und zum Trocknen auf dem Dachboden ausbreiteten. Oder unsere ganz besonderen Freunde, die stolzen Kastanienbäume und die mächtigen Eichen, deren Gaben wir nicht nur zum Basteln benutzten. Sondern auch in Säcken sammelten und damit unser karges Taschengeld aufbesserten. Durch ein paar Pfennige, die wir vom örtlichen Förster erhielten, der mit dem Ergebnis unserer mühseligen Arbeit das Wild im Wald fütterte, wenn es zuviel Schnee im Winter gab.
Mit all diesen Freunden waren wir wohl vertraut, sie waren unsere besten Spielkameraden. Egal, ob wir unsere Häuser in ihren Wipfeln bauten, oder sie Teil unserer Mutproben waren. Wenn wir uns Tarzan zum Vorbild nahmen und uns von Ast zu Ast schwangen. Oft genug auch mit nicht so gutem Ausgang, den wir aber nie zu Hause erzählten. Wenn wir unsere Kraft und Möglichkeiten überschätzten, oder die Kraft unserer Freunde. Und dann plötzlich unsanft nicht nur auf dem Hosenboden landeten. Sondern oft mit aufgeschürften Knien und verstauchten Gelenken uns von dem schönsten Spielplatz der Erde in unser Zimmer schleppten.
Jetzt stehe ich vor meinem entwurzelten „Freund“, der bestimmt doppelt so alt ist, als ich und bestimmt viel zu erzählen hätte. Nicht nur, dass er im letzten Jahrhundert mehrere durch die Menschen angerichtete Katastrophen (u.a. das Bombardement im zweiten Weltkrieg) überlebt hat. Sondern uns auch die Ermahnungen von Menschen mitgeben würde, welche die Natur als Teil ihres Lebens und als Basis ihrer Existenz begreifen und entsprechend achten. So, wie es eine Weisheit der der Indianer mahnend zusammenfasst: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann“.
Leider hören aber immer weniger Menschen auf alte Bäume und auf alte, weise Indianer. Immer mehr Menschen verabschieden sich stattdessen in ihrer masslosen Gier und Unersättlichkeit von Mutter Natur und beuten diese gnadenlos aus. Egal, ob ganze Wälder gerodet werden, um Platz für Tiere zu schaffen, deren Fleisch man später in Imbiss-Buden auf dem Teller findet. Oder ob es einfach um die ganz „normale“ Luftverschmutzung geht, welche über den „sauren Regen“ täglich unseren Waldbestand bedroht. Dabei spielt es dann auch keine Rolle, ob der Grund für diese Verschmutzung in dem zunehmenden Auto- und Flugverkehr, in der explodierenden Massentierhaltung, oder in den „Dreckschleudern“ liegt, in denen fossile Brennstoffe (auch unsere „Freunde“) in Energie umgewandelt werden.
Und da ja „Luft“ nicht ein- oder ausgesperrt werden kann, stehen wir vor einer gigantischen, weltweiten Herausforderung. Nur wenn es der Menschheit gelingt, sich an die erwähnte Indianer-Weisheit zu erinnern und dementsprechend zu handeln, gibt es eine Chance zum Überleben. Das mag manchen Menschen zwar egal sein, gerade auch den aktuellen Herrschern über das ursprüngliche Gebiet der „First Nation“, welche vom „weissen Mann“ (und leider eben nicht „weisen“ Mann) fast ausgerottet wurde.
All diese Gedanken schiessen mir durch den Kopf, während ich vor meinem entwurzelten und sterbenden Freund stehe. Und ich bin nicht nur unendlich traurig, sondern auch ein bisschen ratlos. Weil ich einfach zu wenige „Indianer“ und „Häuptlinge“ sehe. Die mit verantwortlichem Handeln und klugen Entscheidungen dafür sorgen, dass auch die Enkel meiner Enkelkinder noch auf Bäume klettern, Kastanien sammeln und unter einem Blätterdach träumen können. Aber vielleicht ist die Natur auch einfach stärker als wir und überlebt all die Torheiten, die unsere Rasse noch anstellen kann. Bei meiner gefallenen Weide bin ich mir sicher, dass dies zutreffen wird. Sie ist so stark und so schlau, dass aus jeder übrig gebliebenen Wurzel ein neuer Trieb und daraus ein neuer, starker Baum entsteht. Dieser Baum und alle anderen „Freunde“ brauchen uns deswegen nicht. Wir aber sie….
Ganz wunderbar !!!!
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Vielen Dank für Ihr Kompliment, über das ich mich sehr gefreut habe!
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Wieder ein toller Blog von meinem FREUND, LIEBHABER und EHEMANN. ❤
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Über dieses ganz besondere Kompliment von einem ganz besonderen Menschen freue ich mich ganz besonders! 🙂 🙂
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Es entspricht auch meiner Ansicht, dass wir – wenn wir so weitermachen – den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir weiterdenken, als nur über das Berufliche oder über die Alltäglichkeiten die uns ständig zeitlich und geistig in Beschlag nehmen. Ja, s.g. Herr Holzmann, wie recht Sie haben. Wir brauchen einen noch stärkeren Wertewandel unter dem Gesamtdach Humanismus…..
Toll, dass Sie dafür einen Blog gemacht haben und andere Menschen teilhaben lassen. Ich habe vor 10 Jahren dafür einen Stammtisch gegründet, wo wir uns mit humanistischen Gedankengut auseinandersetzen. Das Tolle daran….Die Themen sind „unerschöpflich“….Liebe Grüße und Alles Gute ! Gernot Kaser
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Vielen Dank für Ihre positive Rückmeldung!
Und ja, die Themen sind unerschöpflich, gerade deswegen dürfen wir nicht nachlassen… 🙂
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Hallo !!
Das ganze Thema unter dem Oberbegriff Humanismus ist mir etwas zu kurz gesprungen.
Der Raubbau an Natur und an der Tierwelt ist für mich ein unsäglicher Zustand.
Von daher ist Respekt und Verantwortung gegenüber dem Leben generell das wichtigste Gut.
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Weise Männer sind ( nicht immer) beliebt. Genau deshalb. Weiss kann man übertünchen, je nach Anforderung, Weisheit nicht. Nur verstecken. Deshalb sind weise Männer (wie bei den Indianern) oft Druiden oder Schamanen, die vor(!) den Dorf leben (müssen) – Bis sie gerufen werden. Dann ist es aber schon ’spät‘ – oft zu spät.
Der Agilist aus der Nachbarschaft.
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Hoffentlich ist es für unseren Planeten nicht schon zu spät. Und hoffentlich finden wir noch genügend weise Männer, die dann auch helfen können und wollen…
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Lieber Herr Holzmann,
wieder ein wunderbarer und berührender Beitrag, danke!
Ein Großteil der Menschheit hat leider den „Bodenkontakt“ (eine Metapher, die ich angesichts des umgestürzten Baums spontan vor Augen hatte) verloren, das Bewusstsein, dafür, was die Quelle und Grundlage unseres Lebens ist.
Herzliche Grüße
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Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung und für Ihr Kompliment!
Was mir viel Hoffnung macht, ist die Einstellung und das Verhalten der Generation meiner Kinder und Enkelkinder. Hier beginnt eine Renaissance zurück zu den Ursprüngen und Wurzeln unseres Lebens. Es ist zwar schon „1 Minute vor Zwölf“, aber vielleicht kann der „Zeiger der Uhr“ ja doch noch angehalten werden…
Viele Grüße
Ernst Holzmann
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Danke für diesen wunderbaren Blog, in dem ich mich sehr gut wiederfinden kann.
Vielleicht sind wir altersbedingt noch stärker naturverbunden, da wir von unseren Eltern noch die Abhängigkeit von Wetter, Ernte und Erde gelernt haben.
Wir dürfen unsere Herkunft und Verbindung zur „Mutter Erde“ nicht vergessen…
Nochmals Danke für die Inspiration.
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Herzlichen Dank für Ihr Kompliment über das ich mich sehr gefreut habe! Und genau wegen Ihrer „Erinnerung“, dass wir Mutter Erde nicht vergessen dürfen, habe ich meine entsprechenden Zeilen geschrieben… 🙂
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Habe eben die Mailadresse falsch geschrieben.. naja. Dies nur zur Info.
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Das einzige was mir da zu sagen bleibt ist ein aus tiefem Herzen kommendes:
AHO
Danke für diese Zeilen, die ich, wenn ich darf gerne auf meinem Blog teilen würde.
http://www.goods-for-all.de
Ich grüße Sie aus der tiefe meines Herzens
Sandra Sevenich
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Herzlichen Dank für Ihre positive und „erwärmende“ Rückmeldung, sehr gerne dürfen Sie meine Gedanken auf Ihrem Blog (den ich gleich abonniert habe) teilen… :-))
Viele Grüße
Ernst Holzmann
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Kann man den nicht wieder aufstellen? Ich schick ihm die Kraft des großen Geistes, der den Sinn schon erkennt, wenn der Mensch noch blind ist.
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vielen Dank für Ihr Mitgefühl und das Schicken der entsprechenden „Kraft“! Da es sich bei dem „gefallenen Baum“ um eine Weide handelt, wird diese quasi „für immer“ leben. Da sich ihre Sprösslinge automatisch ein Stück Land (im Zweifel auch auf ihrer „Mutter“) für das neue Leben suchen werden.
Viele Grüße
Ernst Holzmann
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Hallo Herr Holzmann, sehr schöner Beitrag den ich gut nachempfinden kann. Wir mussten eine mehr als 100 jahre alte Linde fällen, da sie krank war. Aber ich pflanze nun einen Amberbaum nach „Liquidambar styraciflua ‚Gumball“. So können die Folgen gemindert werden.
Lieben Gruß aus Gelsenkirchen Buer Hassel
Dirk K ü c k
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Hallo Herr Kück,
vielen Dank für Ihre Rückmeldung und für Ihre Empfehlung! Da es sich bei dem „gefallenen Baum“ um eine Weide handelt, wird diese quasi „für immer“ leben. Da sich ihre Sprösslinge automatisch ein Stück Land (im Zweifel auch auf ihrer „Mutter“) für das neue Leben suchen werden.
Viele Grüße von Potsdam nach Gelsenkirchen Buer Hassel
Ernst Holzmann
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Hsllo, Herr Holzmann! Na, das ist doch mal eine Nachricht! Der Baum ist nicht tod – er transformiert sich nur und erinnert an seine Vermehrung. Manchmal muss man etwas opfern, um mehr zu erhalten. Wie schön! Liebe Grüße aus dem Süden.
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Die Natur – und ganz besonders die Bäume – sind einfach schlauer, als die Menschen… 🙂
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Hier meine Sehr gute Abwandlung eines Inuit!
„Das Härteste Eis gibt es in den Herzen der Menschen!
Es ist Paradox,je schneller das Eis im Norden schmiltz ,desto härter wird das Eis im
Herzen der Menschen.
Solange das Eis im Herzen nicht geschmolzen ist-werden die Menschen nicht wirklich
verändern und kaum damit beginnen Ihr Wissen WEISE einzusetzen!
von Angaangay Lybert (Inuit)
Mit besten Wünschen
Andreas Seiniger
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Vielen Dank für diese weisen Worte! 🙂
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Mal wieder ein ganz wunderbarer Beitrag! Vielen Dank, Herr Holzmann!
Mich beschäftigt die Frage, wie wir vom „Fühlen“ über das „Denken“ zum „Handeln“ kommen können, um unsere so schöne Erde als unsere einzige Heimat vor der Zerstörung retten können?
Meine Erkenntnis ist, dass wir eine und selbst gegenüber schonungslose Selbsterkenntnis brauchen…
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Richtig. Wenn jeder von uns nur ein kleines bisschen Nachdenken und Verantwortung für die nachkommende Generation tragen würde, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter…
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