Manchmal komme ich schon ins Grübeln, ob meine Lehrmethode die richtige ist. Wenn ich an Hochschulen mit jungen Menschen zusammen bin und ihnen zum Beispiel die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten von Sport, Medien und der Gesellschaft beibringen soll. Oder die Grundlagen von  Sportökonomie, was sich hinter komplizierten Begriffen wie Corporate Social Responsibility und Compliance verbirgt, oder was man unter Business Ethik versteht.

Oft fange ich meine Vorlesungen dann mit ganz einfachen Fragestellungen an. Auch um ein Gefühl dafür zu bekommen, was „meine“ Studierenden schon über das „richtige“ Leben wissen. Zum Beispiel, was der Unterschied zwischen Brutto und Netto ist, wieviel jemand nach 160 Stunden schwerer Arbeit im Monat auf dem Konto hat, wenn er Mindestlohn bezieht. Und ob es sich dann lohnt, für diesen Mindestlohn tatsächlich zu arbeiten und nicht doch Hartz IV zu beziehen.

Spätestens bei diesen Rechenbeispielen werden die „Studis“ dann wach. Rechnen oft fassungslos nach, ob meine Rechnungen tatsächlich stimmen und fangen an zu begreifen, warum es sich doch lohnen könnte, mit einem Studium-Abschluss ins Berufsleben zu starten. Dann starte ich die „richtige“ Lehrveranstaltung, stelle die Inhalte und mein Skript vor, verweise auf entsprechende Literatur und auf die am Ende jedes Moduls abzulegende Klausur. Aber schon beginnt sich wieder Langeweile zu verbreiten, die ersten blicken verzweifelt auf die Uhr und können die Mittagspause kaum noch erwarten.

Zu diesem Zeitpunkt ziehe ich meinen Joker und starte eine andere Lehrveranstaltung. Definiere unterschiedliche Projetkaufgaben für Gruppen von zwei bis vier Personen und mit unterschiedlichen Themen, zum Beispiel:

  1. Was sind die Gründe, warum der FC Bayern so erfolgreich ist? Stellen Sie die Organsiation dieses „Unternehmens“ dar, die Entscheidungsorgane und die handelnden Personen. Arbeiten Sie dabei auch den Unterschied zwischen einem „Verein“ und einem nach marktwirtschaftlichen Kriterien agierenden Unternehmen (zum Beispiel der FC Bayern München AG) heraus und bewerten Sie die einzelnen Vor- und Nachteile der jeweiligen Rechtsform.
  2. Stellen Sie der gesamten Gruppe den persönlichen und beruflichen Werdegang folgender Personen vor: Lance Armstrong, Anton Schlecker, Jan Ullrich, Thomas Middelhoff, Dirk Nowitzki, Steffi Graf, oder Klaus Zumwinkel. Bewerten Sie das Handeln dieser Personen am Leitbild eines „Ehrbaren Kaufmanns“ und wer (und warum) aus Ihrer Sicht als Vorbild gelten kann. Oder auch nicht.
  3. Machen Sie sich bitte mit den Skandalen um die ERGO-Versicherung, der Siemens AG, der Deutschen Bank und der Volkswagen AG vertraut. Stellen Sie vor, welchen Einfluss das Verhalten der einzelnen Unternehmen auf deren Stakeholder hatte bzw. immer noch hat, und ob dieses Verhalten der sogenannten Corporate Social Responsibility entspricht.

Nach dieser Themenvorstellung beschreibe ich den weiteren Ablauf. Die Gruppen können sich selbst bilden, die Themenauswahl stimmen die Gruppen untereinander ab, jedes Thema wird nur einzeln vergeben. Und zu jedem Thema wird eine Präsentation (PPT-Format) vor dem Plenum erwartet, Dauer ca. 20 Minuten. Dann beschreibe ich den Terminablauf und das weitere Vorgehen. Alle zur Verfügung stehenden Quellen (Internet, Bibliothek, Skript, sonstige Literatur) können genutzt werden, bei der entsprechenden Präsentation sind die jeweiligen Quellen zu nennen. Der Bezug zu Wikipedia ist verboten, ebenfalls die Nutzung und Angabe von nur einer Quelle. Jede Quelle muss einer Recherche bezüglich Aktualität und Seriösität standhalten können.

Als Zeitvorgabe gibt es zwei Tage. Zur freien Verfügung, wann und wo gearbeitet wird, ist mir egal. Ich bleibe auf dem Campus, bin immer für Rückfragen und zu Abstimmungszwecken erreichbar. Mit dieser „Ansage“ beschliesse ich den Vormittag der Vorlesung und überlasse die Studierenden ihrem Schicksal. Anschliessend ist es interessant zu beobachten, was passiert. Wie sich die einzelnen Gruppen bilden, wie der Abstimmungsprozess über die einzelnen Themen erfolgt und wie die einzelnen Gruppen an die Arbeit gehen. Manche legen sofort los, andere chillen erst einmal eine Runde, checken ihre Nachrichten auf Whats App, surfen im Internet, oder gehen erstmal frühstücken (um 14:00 Uhr). Aber komischerweise sind die meisten zum vereinbarten Termin fertig und liefern in der Regel eine exzellente, fundierte Präsentation ab.

Die „Berlin Rebel High School“

Jetzt habe ich mich schon gewundert, ob ich mit dieser Lehrmethode eine Ausnahme bin, oder ob ich bisher einfach nur Glück mit meinen (fleissigen) Studierenden hatte. Seitdem ich aber die Vorschau auf den Film „Berlin Rebel High School“ gesehen habe, bin ich mir sicher, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ein Auszug aus der entsprechenden Ankündigung:

„Der Filmemacher Alexander Kleider hat einen wilden Haufen von Berliner Underdogs auf ihrem Weg zum Abitur begleitet und auch die LehrerInnen portraitiert, denen nicht nur an der Lehre, sondern an der Neugier der SchülerInnen viel gelegen ist. BERLIN REBEL HIGH SCHOOL erzählt mit viel Witz und Energie von einer radikal anderen Idee von Schule, die Freiheit und Gemeinschaftlichkeit zusammenbringt. Was oft als Leistungsdruck verdammt wird, definieren die SchülerInnen kurzerhand um. Sie sind unbelehrbar und dabei extrem neugierig, sie sind eigen- und doch auch lernwillig. BERLIN REBEL HIGH SCHOOL zeigt mit viel Begeisterung, Sensibilität und Kraft, wie viel gemeinsame Zukunft in dieser Kombination stecken kann.

Alex war mit Anfang 20 schon an über zehn Schulen. Nirgends hat er es lange ausgehalten, mit Disziplinzwang und der Konkurrenz unter den SchülerInnen kam er nicht klar. So ging es auch Lena, die sich in der Schule nie frei fühlte und stets gegen die Regeln des Landlebens aufbegehrte. Und für Hanil aus Aachen war Schule eine lästige und völlig sinnfreie Pflichtveranstaltung. Doch sie alle wollten stattdessen nicht nur einfach nichts machen, sondern eine Zukunft für sich reklamieren, die Spaß und Sinn macht. Sie alle sind Teil einer Klasse der Schule für Erwachsenenbildung (SFE) in Berlin. Seit 1973 besteht die SFE als basisdemokratisches Projekt: kein Direktor, keine Noten. Bezahlt werden die Lehrkräfte von den SchülerInnen, die gemeinsam über alle organisatorischen Fragen abstimmen. Damit ist die SFE extrem erfolgreich und schaffte es bis ganz nach oben in den Schulwettbewerben.

Der große Charme dieser Institution ist die vollkommene Eigenverantwortlichkeit. Niemand zwingt die SchülerInnen, ihr Leben zu verändern, niemand setzt sie unter Druck oder kontrolliert sie. Gerade dieser Umstand macht die Schule zum Experiment, zum Lackmuspapier einer der Grundfragen unserer Gesellschaft: Ist radikale Freiheit möglich? Eine Frage, welche die Bildungsrealität der Gegenwart ebenso radikal mit Nein beantwortet: Abitur in zwölf Jahren, Pisa-Studie, Master/Bachelor; endlos erscheint die Liste aller Reformen, die in den letzten Jahren umgesetzt wurden. Doch welchem Menschenbild liegen sie zu Grunde? Es ist der Zeitgeist des Neoliberalismus, der den Boden bereitet hat. Bildung wurde der Leistungsorientierung unterworfen, Disziplin und Wettbewerb sind die Regeln unseres Schul- und Universitätswesens. Doch welche Menschen entwachsen diesen Institutionen? Welche Werte soll eine Gesellschaft haben, die sich nur für Konkurrenz und Vergleich interessiert?

Die BERLIN REBEL HIGH SCHOOL ist ein Unikum. Eine Versuchsanordnung, die jeglichem Zeitgeist trotzt und gerade dadurch besticht. Eine ganze Generation von Abiturienten durchlief die Kreuzberger Schule und nicht wenige sind heute höchst erfolgreich in ihren Berufen. Vom Brüsseler Star-Anwalt bis zum erfolgreichen Mediziner – Tausende durchliefen eine Schule, in der es nicht um Zensuren, sondern um die Neugier auf das Leben ging. Sie alle profitierten von einem Umfeld, das Lernen nicht als Zwang, sondern als Chance definiert.“

Nur schade, dass ich von diesem Projekt erst durch den angekündigten Film erfahren habe. Sonst hätte ich schon viel früher meinen Studierenden gesagt: Lernt doch, was ihr wollt. Und wann und wo ist mir auch egal….