Eigentlich sollten wir den flüchtenden Menschen dankbar sein, dass sie durch ihre Ankunft uns zum Nachdenken gebracht und eine entsprechende Diskussion in Gang gesetzt haben. Auch darüber, was uns als Gesellschaft ausmacht und welche Werte für unser Zusammenleben wichtig sind. Manche Menschen und politische Parteien fühlen sich durch dieses Ereignis sogar aufgefordert, einen „Katalog“ aufzustellen, in dem Werte definiert sind und an die man sich gefälligst zu halten hat, wenn man hier leben möchte. Sie sprechen dann von einer sogenannten „Leitkultur“, wobei den Verfassern dieser „Leitlinien“ vermutlich selbst nicht klar ist, was eine Kultur eigentlich ausmacht und was ganz speziell unsere Kultur von anderen unterscheidet.

Munter werden bei dieser Definition eigenes Benehmen und das Halten an Gesetzen mit kulturellen und religiösen Eigenheiten verwechselt und durcheinander gebracht. Oft auch in verzweifelter Absicht, anderen Menschen seine eigene Lebensweise vorzugeben, oder sogar aufzwingen zu wollen. Dies auch, weil die Verfasser der Vorgaben entweder bisher keine Berührungen und Erfahrungen mit anderen Lebensarten oder Kulturen hatten, oder auch aus diesem Grund andere „Sitten und Gebräuche“ einfach kategorisch ablehnen.

Was gehört jetzt aber zu einer Kultur, gerade zu der Kultur des „Christlichen Abendlandes“ die manche Menschen so vehement verteidigen und schützen wollen? Dabei kommen diese „Verteidiger“schon ins Schwitzen und Stottern, wenn man sie nach dem Unterschied von Pfingst- und Ostermontag fragt und was am zweiten Weihnachtsfeiertag oder an Allerheiligen der Grund zum Feiern ist. Unverdrossen geht die Debatte aber weiter, dass „Werte“ wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Höflichkeit und das gegenseitige Hände schütteln selbstverständlich die „Säulen“ unseres Zusammenlebens sind und den Wert unserer Kultur ausmachen.

Dass bei diesem Zusammenleben es aber eher die Ausnahme statt die Regel ist, älteren Menschen einen Platz in der Strassenbahn anzubieten, nicht mit vollem Mund zu sprechen, oder sich als Radfahrer rücksichtsvoll gegenüber Fußgängern zu verhalten, wird dann oft vergessen und verschwiegen. Und ob es ein besonderes Zeichen von Höflichkeit ist, sich bei einem gemeinsamen Treffen mehr mit seinem Smartphone als mit den Anwesenden zu beschäftigen, wage ich auch zu bezweifeln. Aber alle sollen sich an dieses Zusammenleben anpassen, weil diese Verhaltensweisen ja angeblich auch Zeichen unserer „fortgeschrittenen“ Leit-Kultur sein sollen.

Spätestens bei dem „berühmten“ Kopftuch und anderen Bekleidungen wird die Diskussion dann ganz seltsam. Das Tragen von Kopftüchern wird oft abgelehnt, Verhüllungen von Gesicht und Körper sowieso. Anscheinend sind wir alle schon so erzogen, dass es keine Freiheiten mehr gibt, wie man sich kleiden und zeigen darf. Die Strategie der Männer scheint aufzugehen, das weibliche Geschlecht mit immer neueren „Moden“ zum Zeigen von immer mehr nackter Haut zu manipulieren. Erfindungen (natürlich von Männern) wie der Bikini, Mini Rock und Hot Pants sind nur einige der „Meilensteine“ in der angeblichen Befreiung der Frau. Aber was sagen eigentlich die Betroffenen, die Frauen, zu dieser „Befreiung“? Ist es nicht hauptsächlich der Gruppenzwang in der westlichen Gesellschaft, der sie veranlasst, sich so zur Schau zu stellen? Oder würden die Betroffenen anders entscheiden, wenn sie nicht auch durch die Werbekampagnen der jeweiligen Hersteller und das Verhalten ihrer „Konkurrenz“ entsprechend animiert würden?

Und apropos Bekleidung und der entsprechenden Kultur: Wie ordnen wir denn andere „Errungenschaften“ und Eigenheiten der deutschen Bekleidungsordnung ein? Zum Beispiel die berüchtigten weissen Tennissocken, die mit Sandalen zu kurzen Shorts getragen werden. Mit dazu passenden Feinripp-Unterhemden über gut gepolsterten Wohlstandsbäuchen. Ist das Tragen einer Lederhose, eines Trachtenhutes, eines Dirndl jetzt auch Bestandteil unserer Leitkultur, oder eher doch eine persönliche Auswahl und Entscheidung? Die religiösen Gewänder von Nonnen oder Mönchen möchte ich an dieser Stelle erst gar nicht erwähnen.

Wobei es auch hier wieder spannend wird, wenn wir über Religion als Teil unserer Kultur sprechen. Die schon erwähnten „Weihnachtschristen“ (einmal im Jahr an Heilig Abend in der Kirche, weil es dort so besinnlich ist) habe ich schon angesprochen. Wobei es immer mehr Menschen gibt, die mit Glauben gar nichts mehr am Hut haben. Ausser der „Glaube“ an den Wert auf  ihrem Bankkonto, ihres Aktiendepots, oder der gerade frisch gekauften Eigentumswohnung. An welche Kultur müssen wir uns jetzt aber genau halten? Lieber jeden Sonntag vormittag in die Kirche gehen, oder lieber ausschlafen und dann in die Kneipe? Um anschliessend vielleicht den Rasen zu mähen (egal, was der Nachbar dazu sagt) das Auto zu waschen (egal, was die Umwelt dazu meint) und vielleicht mit viel Alkohol dann das Wochenende zu beschliessen (egal, was der Magen und der Kopf am nächsten Tag dazu meldet).

Und bei dem Thema „Magen“ sind wir schon bei der nächsten Frage, wie wir unsere Kultur der Ernährung und des Essens beschreiben und vorgeben sollten. Weiter jeden Tag Tausende Tonnen von Fleisch von Schweinen, Hühnern oder Kühen verzehren, die immer weniger artgerecht gehalten, sondern unter unsäglichen Bedingungen als Massenware produziert werden? Oder doch lieber mehr Gemüse, Salat, Obst, Pasta und (selbstgebackenes) Brot? Können wir nicht gerade auch hier besonders froh sein, dass wir in den letzten Jahren von anderen Kulturen gelernt haben, dass es neben Bratwurst, Schnitzel,  Schweinebraten, Knödel und Sauerkraut auch noch andere Arten der Ernährung geben kann?

Ähnlich, wie wir von anderen Kulturen lernen könnten, wie man dort mit Menschen umgeht, speziell mit älteren. Es ist doch eine Schande für unsere angebliche Zivilisation und gerade für unsere Wohlstandsgesellschaft, wie wir teilweise unsere  Angehörigen behandeln. Menschen die zu uns kommen, stehen oft fassungslos davor, wie wir die „Alten“ und/oder Gebrechlichen aus unserer Familie viel zu oft aus- und einschliessen. In Pflege- und Altersheime abschieben, um dort dann Jahrelang alleine nur noch auf den eigenen Tod warten zu müssen. Manchmal mit Besuch am Sonntag nachmittag, oft nur an deren Geburtstag, oder an Feiertagen. Und wenn diese Menschen ganz viel Glück haben, werden sie an Weihnachten (wir sprachen schon darüber) mal wieder nach Hause geholt. In anderen Kulturkreisen ist das anders. Da hat die Familie immer noch einen hohen Stellenwert und die Pflege eines Familienmitglieds wird von dessen Angehörigen übernommen, so lange es einigermassen möglich ist. So, wie es bei uns vor nicht so langer Zeit ganz normal und üblich war.

Jetzt frage ich Sie: Welche Werte sind Ihnen tatsächlich wichtig, was ist der „Kitt“, der unsere Gesellschaft zusammenhält? Ist es weiterhin die Solidarität mit und die Unterstützung von Schwachen, egal, wo diese herkommen? Verfolgen wir immer noch das Prinzip, dass ein Miteinander allemal besser ist, als ein Gegeneinander? Dass es darauf ankommt, welchen Charakter ein Mensch hat und wie er sich verhält. Auch wieder vollkommen egal, welche Herkunft, Rasse, Bildung, oder welches Aussehen er oder sie hat. Hat die Achtung von unseren Mitmenschen, Lebewesen und der Natur ein höheres Gewicht als deren Missachtung? Finden wir Weltoffenheit und Toleranz gegenüber anderen Lebensmodellen besser, als Abschottung und Ausgrenzung? Oder zählt nur noch der eigene Vorteil und der maximale Gewinn, ohne Rücksicht auf Verluste (bei anderen)?

Und ganz am Schluss sollten wir natürlich die Frage beantworten, was tatsächlich zu unserer Kultur gehört und was wir von „Fremden“ verlangen können und sollten. Menschen, die oft zig-Jahre lang in und mit einer „anderen“ Kultur aufgewachsen sind und diese eben nicht so einfach wie ein Kleidungsstück ablegen oder wechseln können. Oder gibt es eigentlich DIE und speziell UNSERE Kultur gar nicht? Ist es nicht einfach so, dass das höchste Gut in unserer Gesellschaft unsere Freiheit ist, und nicht irgendeine Lebensart? Die Freiheit, dass jeder nach seiner Facon glücklich werden kann, solange er/sie sich an die geltenden Rahmenbedinungen hält. Auch, mit seiner Lebensweise nicht in die Freiheit des anderen eindringt, oder seine eigene Lebensvorstellung nicht anderen Menschen aufzwingt.

Damit wären wir dann doch bei unserer „Leitkultur“ die schon seit über 60 Jahren festgeschrieben ist. Nämlich in unserem Grundgesetz. Mit dem ersten und wichtigsten Satz, dass „die Würde des Menschen unantastbar ist“. Und im Artikel 2 über die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Eigentlich ganz einfach, oder?

 

Hier die entsprechenden Passagen aus dem Grundgesetz gerne zum nachlesen:

I. Die Grundrechte

Artikel 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Artikel 2

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Artikel 3

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Artikel 4

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.