Es war ungefähr drei Monate nach meinem Start bei meinem neuen Arbeitgeber. Bei dem ich als Leiter Vertrieb & Marketing den Geschäftsrückgang stoppen, neue Kunden gewinnen, Kosten senken und den Umsatz steigern sollte. Das übliche Programm, „Zaubern“ inbegriffen. Und bei dem ich ein Team vorfand, welches ich bei meiner Vorstellung gleich mit meiner Aussage schockte, dass ich keine emails lesen würde.

In den ersten Wochen besuchte ich viele Kunden, führte viele Gespräche mit meinen Mitarbeiter/innen und fragte immer, wo es Verbesserungspotential gab und wie ich bei der entsprechenden Umsetzung helfen konnte. Jeden Freitag nachmittag trafen wir uns im Team, liessen die letzte Woche Revue passieren, trafen Vereinbarungen und bereiteten die nächste Woche entsprechend vor. Und die Stimmung wurde zunehmend besser. Die Kollegen/innen begannen wieder miteinander zu sprechen, statt sich emails zu schreiben. Versuchten, gemeinsam Lösungen zu finden, statt auf irgendwelche Entscheidungen von irgend jemandem zu warten. Dem für diese Entscheidung oft auch die entsprechende Expertise fehlte und deswegen viel zu oft und viel zu spät die Entscheidung traf. Vielleicht deswegen auch oft die falsche.

In meinem neuen Team gab es eine ganz besondere Kollegin. Anfang dreissig, immer gut gelaunt, fleissig und hoch motiviert. Man sah ihr förmlich an, dass ihr die Arbeit Spass zu machen schien. Diese junge Dame – sie erinnerte mich auch ein bisschen an eine meiner Töchter – war für Kundenbeschwerden zuständig. Löste dabei auch die kniffligsten Themen mit Kompetenz und Charme, in ihrem Zuständigkeitsgebiet gab es die wenigsten Kündigungen. Sie hatte eine ähnliche Angewohnheit wie ich, schon sehr früh am Morgen im Büro zu sein, auch um in Ruhe den Tag vorzubereiten. Und da ich ja sofort nach meinem Start in allen Büros, natürlich auch in meinem, Glastüren anbringen liess, war ihr freundliches Lächeln und ein kurzer Morgengruß meistens das erste, was mich am frühen Morgen empfing.

Aber seit ein paar Wochen war irgendwie alles ein bisschen anders. Frau „Sonnenschein“ (nennen wir sie für diese Geschichte ruhig so) kam morgens immer unregelmässiger, ihr Lächeln war immer weniger zu sehen und zu den Teammeetings am Freitag nachmittag entschuldigte sie sich immer öfter. Und zu allem Überfluss liess ihre Leistung auch noch nach. Immer mehr unbearbeitete Reklamationen tauchten in der Statistik auf und immer öfters hatte ich aufgebrachte Kunden am Telefon, die auf eine Klärung von Frau Sonnenschein warteten. Irgendetwas stimmte hier nicht, so konnte es nicht mehr weitergehen. Ich musste handeln, auch im Interesse des gesamten Teams und des Unternehmens.

Als dann mein ehemaliges „bestes Pferd im Stall“ an einem Freitag nachmittag wieder nicht zum Teammeeting erschien, war die Zeit zum Handeln endgültig gekommen. Schon am Montag darauf, als ich „Sonnenschein“ wieder einmal verspätet an meiner Glastür vorbeihuschen sah. Ich liess ihr ein paar Minuten Zeit, rief sie an und fragte, ob sie ihren Morgen-Kaffee ausnahmsweise mit mir in meinem Büro trinken möchte, ich würde gerne mit ihr reden.  Etwas später klopfte sie schüchtern an meine Tür, ich öffnete diese und bat sie herein. Und war erschrocken über ihr Aussehen.

Leichenblass, strähnige Haare, tiefe und dunkle Augenringe, meinen Blicken wich sie aus, ihre Hände zitterten, den eingeschenkten Kaffee rührte sie nicht an. Liebe Frau Sonnenschein, so begann ich unser Gespräch, so kann es nicht mehr weitergehen.  Ich erkenne sie nicht mehr wieder. Sie waren ein Vorbild an Zuverlässigkeit und Freundlichkeit, im Kollegenkreis beliebt und selbst die schwierigsten Kundengespräche lösten sie erfolgreich. Und jetzt, genau das Gegenteil. Irgendetwas stimmt doch nicht, was ist denn nur los mit ihnen?

Kaum hatte ich meinen letzten Satz ausgesprochen, brach Frau Sonnenschein in Tränen aus. Wahre Sturzbäche schossen aus ihren Augen, sie konnte nicht mehr an sich halten und weinte bitterlich vor sich hin. Am liebsten hätte ich sie in meine Arme genommen und getröstet, so wie früher meine Kinder. Wenn die mit Liebeskummer, schlechten Noten aus der Schule, oder mit einer Niederlage vom Fußballplatz nach Hause kamen. Und eben auch aus Verzweiflung, Enttäuschung, oder aus Wut ihre Tränen nicht mehr halten konnten. Aber noch wusste ich ja nicht, was mit Frau Sonnenschein los war. So blieb mir nichts anderes übrig, als erst einmal mit einer Packung Taschentücher auszuhelfen, um den nicht nachlassenden Strom von Tränen bei meinem Gegenüber einigermassen bändigen zu können.

Ich kann sie ja verstehen, dass sie sauer sind, ich bin ja selber mit mir unzufrieden, aber ich kann es einfach nicht ändern. So begann Frau Sonnenschein stockend und noch immer schluchzend, zu erzählen, als sie sich langsam wieder gefasst hatte. Aber wenn sie mich jetzt entlassen, ist alles aus, ich weiss dann nicht mehr, wie es weitergehen soll. Und schon wieder flossen die Tränen, schon wieder musste eine neue Packung Taschentücher dran glauben. Jetzt beruhigen sie sich erstmal, für jedes Problem gibt es eine Lösung. Sagen sie mir einfach was los ist und wie ich ihnen helfen kann. Bei diesen Worten nutzte ich eine Pause zwischen dem Tränenschwall, mein „Sonnenschein“ wurde endlich ruhiger und schilderte ihre Situation.

Dass ihre Beziehung vor ein paar Wochen in die Brüche ging und dass sie jetzt mit ihrer vierjährigen Tochter alleine in der jetzt viel zu großen (und zu teuren) Wohnung lebte. Niemanden mehr hatte, mit dem sie sich in der Betreuung ihrer Tochter abwechseln konnte, nur ihre Mutter, die zweimal die Woche ihre Enkelin aus der KITA abholen konnte. Aber sie („Sonnenschein“) ihr Kind die restlichen Tage schon frühmorgens hinbringen und am frühen Nachmittag wieder abholen musste. Das war der Hauptgrund, warum sie eben nicht mehr wie gewohnt pünktlich kommen und gehen konnte. Sondern unregelmäßig und jeden Freitag eben schon um 13:00 Uhr.

Jetzt weiss ich endlich was los ist, wären Sie einfach früher zu mir gekommen. Dann hätten wir uns viel Stress ersparen und schon früher eine Lösung finden können. Es ist doch ganz einfach, wir passen einfach ihre Arbeitszeiten so lange an die neue Situtation an, bis sich diese geändert hat. So leitete ich mein Antwort und meinen entpsrechenden Vorschlag ein. Eigentlich ist es doch fast egal, wo sie arbeiten. Ob hier im Büro, oder zu Hause. Und da ich ihnen voll vertrauen kann, umso mehr. Was halten Sie denn davon, dass sie für sich selbst einen neuen „Arbeitsplan“ aufstellen, wir diesen auch an alle Beteiligten kommunizieren und sie am Freitag einfach von zu Hause aus arbeiten? Sie bekommen einen Zugang zu unserem CRM-System, einen Laptop und die Probleme sind gelöst.

In den Augen von Frau Sonnenschein sah ich ungläubiges Staunen, das Leuchten war zurückgekehrt. Das würden Sie wirklich machen, antwortete sie? Ehe ich mich versah, sprang sie von ihrem Stuhl auf, rannte zu mir hinüber und fiel mir um den Hals. Gerade in diesem Moment ging Herr Kleindienst an meiner neuen Büro-Glastür vorbei und blickte herein. Seinen Blick werde ich mein Leben lang nicht vergessen, genauso, wie das darauffolgende Meeting am Freitag. Bei dem ich eine Menge erklären musste. Und nicht nur die geänderten Arbeitszeiten von Frau Sonnenschein…