„So ein herrlicher sonniger Tag, und ich soll gehen. Aber wie viele muessen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wieviel junges, hoffnungsvolles Leben… Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgeruettelt und geweckt werden?“. Immer wenn ich diese letzten Zeilen von Sophie Scholl vom 22. Februar 1943 lese, schiessen mir die Tränen in die Augen. Tränen der Trauer und Verzweiflung, weil ich selber drei Kinder und zwei Enkelkinder habe. Und daran denken muss, wie erschüttert und verzweifelt Sophie´s Eltern über die Ermordung ihrer Tochter gewesen sein müssen.

Und Tränen der Wut und Hilflosigkeit deswegen, weil ich es immer noch nicht fassen und begreifen kann, wie es dazu kommen konnte. Auch, wie Bestien in Menschengestalt erbarmungslos junges Leben auslöschten, einfach so. Mit einem Federstrich, ohne irgendeinen Grund und ohne mit der Wimper zu zucken. Und nicht nur das Leben eines 21-jährigen Mädchens in der Blüte ihrer Jugend, voller Hoffnung und voller Neugier auf das Leben, das auf sie noch wartete. Sondern auch das Leben ihrer Mitstreiter. Ihres Bruders Hans und ihrer Freunde Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell, sowie von Professor Kurt Huber.

Widerstand gegen Nationalisten, Rassisten und Faschisten

Was war das „Verbrechen“ von Sophie und ihren Freunden, alles Mitglieder der Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“, das ihnen zur Last gelegt wurde? Nichts anderes als das Eintreten für  Mitmenschlichkeit und das Zeigen von Zivilcourage. Nämlich couragiert gegen Unrecht und für Freiheit, Toleranz, Frieden und Achtung der Menschenwürde einzustehen. Vor gerade einmal 75 Jahren, mitten in einem Deutschland, welches von Unmenschen beherrscht wurde. In dem Unrecht, Willkür, Hetze gegen andere Religionen, Hass auf Fremde und Krieg herrschten. Und in dem es nur noch wenige Menschen gab, die gegen diese Schreckensherrschaft aufstanden und dagegen anzukämpfen versuchten. So wie Hans Scholl mit seinen Freunden, die im Frühsommer 1942 anfingen, Flugblätter zu verteilen. Und im Winter 1943 in München „FREIHEIT“ und „NIEDER MIT HITLER“ an Mauerwände schrieben. Am Morgen des 18. Februar 1943 legten Hans und Sophie Scholl an der Münchner Universität ein weiteres, ihr letztes, Flugblatt aus. Da sie am Schluss noch einige Flugblätter übrig haben, wirft Sophie diese vom zweiten Stock des Hauptgebäudes über die Brüstung in den Lichthof der Münchner Universität. Dabei werden die Geschwister Scholl von Hörsaaldiener Jakob Schmid beobachtet, der sie festhält und umgehend die Gestapo benachrichtigt. Am 22. Februar werden die beiden Geschwister im Alter von 24 bzw. 21 Jahren zum Tode verurteilt und noch am selben Nachmittag durch das Fallbeil hingerichtet. Ebenso ihr Freund Christoph Probst, 23 Jahre alt. Im April werden Kurt Huber, Alexander Schmorell und Wilhelm Graf ebenfalls zum Tode verurteilt. Nach dem Tod der Mitglieder gelangt das letzte Flugblatt über Skandinavien nach England – und wird als „Manifest der Münchner Studenten“ im Herbst 1943 von britischen Flugzeugen über Deutschland abgeworfen.

Hildegard Hamm-Brücher als Zeitzeugin und Mahnerin

Was ist nun das Vermächtnis der „Weißen Rose“? Vermutlich kann es niemand besser beschreiben, als  Hildegard Hamm-Brücher, die als Zeitzeugin (Studentin von 1940 bis 1945 an der Universität München) einzelne Mitglieder der „Weißen Rose“ kennenlernte und auf diese Frage wie folgt antwortete: „Dass es immer Menschen geben muss, die sich dafür mitverantwortlich fühlen, dass unsere Freiheit nie wieder gefährdet wird. Das ist die Botschaft, die diese jungen Menschen hinterlassen haben. Und sie sollen Vorbild sein, auch in alltäglichen Situationen: Seht nicht weg, wenn Ausländer angegriffen werden! Kämpft gegen Rechtsextremismus! Habt Zivilcourage!“

Dieser Aufruf von Hildegard Hamm-Brücher aus dem April 2005 ist nun mehr als 10 Jahre her, die „große, alte Dame“ der Politik verstarb im Dezember 2016. Leider können wir sie deswegen nicht mehr fragen, was sie zu der heutigen Situation in unserem Land sagen würde. Und erst recht nicht Sophie Scholl und ihre Mitstreiter, wie sie auf unser heutiges Land reagieren würden. Wenn sich zum Beispiel Politiker hinstellen und eine „Wende in unserer Erinnerungspolitik“ fordern. Ein Mahnmal gegen das Vergessen von Millionenfachen Morden als „Denkmal der Schande“ bezeichnen. Auf Versammlungen Menschen als „Viehzeug und Gelumpe“ bezeichnet werden, oder Menschen sich wieder starke Führer wünschen, hinter denen sie sich verstecken können. Und man dann mit diesem starken „Führer“ gerne anderen Menschen (wieder) befehlen kann, was diese zu tun und zu lassen haben und wie sie denken müssen.

Was würde Sophie Scholl heute tun?

Was würden die Mitglieder der Weißen Rose dazu sagen, dass sich heute überall wieder Nationalismus Bahn bricht? Demagogen in vielen Ländern wieder fordern, dass ihr Land an erster Stelle zu stehen hat. Egal, ob dies dann die USA, England, Frankreich, Holland, Österreich, Ungarn, oder Deutschland ist. Und wenn alle Länder an erster Stelle stehen wollen, wie entscheidet sich dann die tatsächliche Platzierung? Per Los, Abstimmung, Anzahl der Einwohner, Höhe der Berge, oder vielleicht doch (wieder) nach militärischer Stärke? Und warum soll jetzt plötzlich wieder ein Gegeneinander besser sein, als ein Miteinander? Wieso Ignoranz wertvoller als Toleranz und Abschottung wichtiger als Freiheit?

Sollten Sophie Scholl und die vielen anderen, mutigen Menschen der Weißen Rose tatsächlich umsonst gestorben sein? Oder gibt es doch noch Hoffnung,  dass nicht nur durch ihr Handeln „Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden“? Ich weiss nicht, wie Sie diese Fragen beantworten und wie Sie das entsprechende Vermächtnis beurteilen. Aber was ich weiss, ist, dass ich Sophie Scholl und ihr Beispiel mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde. Und ich möchte nicht erleben, dass meine Kinder oder Enkelkinder an „einem herrlichen sonnigen Tag“ von mir gehen müssen. Und ich erfahre es aus der Zeitung…

 

P.S.: Das Foto von Sophie Scholl wurde mir freundlicherweise von Manuel Aicher (jüngster Sohn von Inge Aicher-Scholl) aus seinem Familien-Archiv zur Verfügung gestellt. Dafür herzlichen Dank!